Kauf von mehr als einer Zeitung ist eine Straftat

Die linke Tageszeitung Evrensel hat gegen die Presseanzeigenagentur (BİK) geklagt, die ihr das Recht entzog, offizielle Anzeigen zu veröffentlichen. Das 2. Verwaltungsgericht Istanbul wies die Klage heute (26.01.2024) ab. In seiner Entscheidung akzeptierte das Gericht das Argument der BIK, der Kauf von mehr als einer Ausgabe der Zeitung durch eine Person sei eine Straftat und wies die Klage mit der Begründung ab, dass 359 Exemplare zudem an verschiedene politische Parteien und Organisationen verkauft wurden.

WAS IST GESCHIEHEN?

Im September 2019 entzog die Presseagentur (BIK) der Evrensel das Recht zur Veröffentlichung von Werbeanzeigen, wogen die Zeitung Widerspruch einlegte. Weil die BIK das ablehnte, ging der Fall im August 2022 vor Gericht. In der Begründung hieß es, dass die Verkaufsbücher der Zeitung nicht korrekt geführt würden, da Leser mehr als eine Zeitungsausgabe kauften. Nach dem ersten Gerichtsbeschluss im Sinne der BIK, reichte die Zeitung zwei Einsprüche bei der Agentur für Pressewerbung ein, um die Aufhebung des Beschlusses zu erreichen. Die Generaldirektion der BİK wies die Einsprüche jedoch mit der Begründung zurück, dass keine neuen positiven Informationen und Dokumente vorgelegt wurden, die den Verstoß der Zeitung beseitigen würden. Devrim Avcı, Anwalt der Evrensel, zog daraufhin gegen die Entscheidung erneut vor Gericht.

GERICHT GIBT BİK RECHT

Die erste Anhörung fand am 28. November 2023 vor dem 2. Verwaltungsgericht in Istanbul statt. Am Ende beschloss das Gericht, die Klage abzuweisen und erklärte die Löschung von staatlichen Anzeigen durch die BİK für gerechtfertigt. Begründet wurde die Entscheidung mit den Feststellungen, dass rund 359 Exemplare der Zeitung an verschiedene politische Parteien und Organisationen geliefert wurden, die zuletzt nicht als Händler eingestuft wurden. Die Branchenbücher, die in elektronischer Form geführt werden müssen, nicht täglich bearbeitet würden, was einen Verstoß darstellt. Im Händler- und Abonnentenbuch seien demnach nur 50 Abonnentenverkäufe aufgeführt, die für jeden Erscheinungstag der Zeitung ausgestellt werden. Im vorliegenden Fall werde deshalb davon ausgegangen, dass die klagende Zeitung, die in der Gesetzgebung geforderte Mindestzahl an Verkäufen nicht erfülle. Der Entzug des Rechts auf Anzeigen der Tageszeitung Evrensel, stelle demnach kein Widerspruch zum Gesetz dar.

„ES GIBT EIN POLITISCHES EMBARGO“

Devrim Avcı, erklärte, in dem aktuellen Urteil sei keine Rechtfertigung für ein Werbeverbot zu erkennen. Er verwies auf das Recht Berufung einzulegen. Auf Grundlage des Verfahrens und der aktuellen Entscheidung wird die Zeitung allerdings ständig durch die BIK überwacht.

Chefredakteur der Evrensel, Hakkı Özdal, sagte, die Entscheidung bedeute einen finanziellen Verlust für die Zeitung Evrensel und eine weitere Erschwernis für das Verlagswesen, die in Konkurrenz zu großen Medienmonopole arbeiten. Özdal betonte, dass die Entscheidung sie aber nicht in ihrer Arbeit aufhalten werde. „Es wird davon ausgegangen, dass eine Person nicht mehr als eine Zeitung kaufen kann, aber da wird unsere Reichweite unterschätzt. Einige unserer Leser und organisieren sich freiwillig dafür, dass unsere Zeitung überall verkauft wird“.

Özdal betonte, dass es sich bei dem Urteil um eine politische Entscheidung handelt: „Wir haben die Anhörungen verfolgt und mit eigenen Augen gesehen, wie nahe sich Angeklagter und Entscheidungsträger stehen. Dieses Urteil hat nicht nur über die Evrensel, sondern auch über das letzte verbliebene Gesetz entschieden, das ein ‚Recht‘ genannt werden kann.“

Große Solidarität für die Pressefreiheit in Istanbul

Tausende Leser nahmen an dem Solidaritätsfest teil, das gegen den Druck der Regierung auf die Tageszeitung Evrensel organisiert wurde, die seit 27 Jahren in der Türkei unter dem Motto „Die Stimme der Arbeiter, der Bote der Wahrheit“ erscheint. Viele Menschenrechtsorganisationen, Akademiker, Journalisten und Intellektuelle unterstützten die Veranstaltung mit Reden und Grußbotschaften, und es wurde ein deutliches Zeichen zur Verteidigung der Pressefreiheit gegen die Versuche der Erdoğan-Regierung gesetzt, die oppositionelle Presse zum Schweigen zu bringen. Viele Künstler zeigten mit ihren Auftritten und Ausstellungen ihre Unterstützung für die Zeitung Evrensel und die Pressefreiheit.

In der Türkei, wo nur wenige Oppositionszeitungen erscheinen, wurde Evrensel, eine von ihnen, in den letzten Monaten von der Regierung mit einem Werbeverbot belegt. So soll die Zeitung für ihre oppositionelle Redaktionspolitik wirtschaftlich bestraft werden.

Arbeiter, Werktätige, Jugendliche und Frauen, die zum Festivalgelände kamen, riefen „Evrensel kann nicht zum Schweigen gebracht werden, die Zensoren werden gehen und wir werden bleiben“.

In der Halle hingen Transparente mit den Aufschriften „Evrensel ist stark mit euch“, „Wir sind stark mit Evrensel“, „Nein zur Zensur“, „Evrensel lässt sich nicht zum Schweigen bringen“, „Die Einheit der Arbeiter wird das Kapital besiegen“, „Wir werden gemeinsam ein unabhängiges, demokratisches Land und ein menschenwürdiges Leben gewinnen, die Völker werden siegen“ und „Frieden“ in verschiedenen Sprachen. Die Leser riefen beim Betreten des Veranstaltungssaals häufig Slogans, wie „Die freie Presse kann nicht zum Schweigen gebracht werden“ und „Die Arbeiterklasse ist stark mit ihrer Presse“.

„Sie bekommt ihre Kraft von der Bevölkerung, ihr werdet sie nicht zum Schweigen bringen“

Das Festival begann mit einer Filmvorführung über die Rolle von Evrensel in den Kämpfen der Arbeiter, Frauen und Jugendlichen. Seyit Aslan, Vorstandsmitglied des Gewerkschaftsdachverbands DİSK und Vorsitzender der Gewerkschaft Gıda-İş, ergriff das Wort im Namen des Festkomitees. Aslan wies auf die Bemühungen der Regierung hin, Evrensel über das Amt für Presseanzeigen (BİK) zum Schweigen zu bringen und sagte: „Eure Tyrannei und euer Druck werden für Evrensel nicht ausreichen. Wir werden diese Schwierigkeiten gemeinsam überwinden, denn Evrensel ist die Zeitung der Arbeiterklasse, die Zeitung der Befürworter der Demokratie, die Zeitung der Frauen und der Jugend. Es ist die Zeitung von Menschen, die Ungerechtigkeit und Unrecht erfahren haben, die versuchen, ihre Umwelt und Natur zu schützen, die gegen die Umgestaltung der Städte kämpfen und denen es egal ist, wo sie wählen. Sie werden diese Zeitung niemals aufhalten können. Solange Evrensel seine Kraft aus der Arbeiterklasse, der Bevölkerung und den Werktätigen bezieht, kann und wird Evrensel nicht zum Schweigen gebracht werden.“

„Der Zensurdruck ist größer als in der Vergangenheit“

Fatih Polat, Chefredakteur von Evrensel, betonte, dass die Türkei eine der problematischsten Phasen in Bezug auf die Pressefreiheit durchläuft und sagte: „Der Druck, der auf Zeitungen und Fernsehsender durch BIK und RTÜK (Oberster Rundfunk- und Fernsehrat) liegt, wird durch das neue Desinformationsgesetz noch verstärkt, das Websites stärker als je zuvor unter Zensurdruck setzt. Journalisten, die die Nachrichten auf der Straße verfolgen, sind häufig mit Polizeigewalt konfrontiert. Kürzlich sind zu unseren inhaftierten Kollegen 25 weitere Journalisten hinzugekommen“. „Trotz allen Drucks gibt es eine journalistische Tradition, zu der auch unsere Zeitung gehört, die das Recht der Öffentlichkeit auf Nachrichten nicht gefährdet“, sagte Polat und richtete Grüße an die inhaftierten Journalisten und diejenigen, die diese Tradition fortführen.

„Wir wollen von einer freien Türkei berichten“

Polat betonte, dass „Evrensel nicht zum Schweigen gebracht werden kann“ angesichts aller Hindernisse, die gegen die Zeitung seit ihrem ersten Erscheinungstag aufgetreten sind, und sagte: „Die Regierungen, die dies zuvor versucht haben, sind Geschichte, ohne dass sie Erfolg hatten. Die AKP wird auch lernen. Wir fordern BIK, die uns aus politischen Gründen das Recht auf offizielle Anzeigen entzogen hat, erneut auf, diesen rechtswidrigen Akt aufzugeben. Die Solidarität unserer Leser gibt uns Kraft. Der Anstieg der Zahl unserer Abonnenten nach der Streichung unseres Werberechts ist eine wichtige Antwort auf diejenigen, die Evrensel mit einer finanziellen Belagerung ersticken wollen. Wir brauchen die Kontinuität dieser Solidarität. Wir wollen von einer freien Türkei berichten, in der die Kinder nicht hungrig zu Bett gehen“.

Nach Polats Rede hoben Tausende von Menschen ihre Zeitungen in die Luft und riefen: „Die Zensoren werden gehen, wir werden bleiben“.

„Sie können diese Stimme nicht zum Schweigen bringen, egal was sie tun“

Die Botschaften des ehemaligen HDP-Ko-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş, der TTB-Vorsitzenden (Türkische Ärztekammer) und Evrensel-Kolumnistin Şebnem Korur Fincancı sowie der Gezi-Gefangenen Mücella Yapıcı, Çiğdem Mater, Mine Özerden, Can Atalay, Tayfun Kahraman und Hakan Altınay wurden ebenfalls auf dem Festival verlesen.

In der Grußbotschaft der Plattform Istanbuler Gewerkschaften hieß es: „Im Namen der Klassensolidarität bringen wir erneut zum Ausdruck, dass wir Evrensel unter allen Umständen zur Seite stehen.“

Der Widerstand der Frauen für die Istanbuler Konvention, der Kampf der Boğaziçi-Studenten und Akademiker sowie die Opfer des Massakers vom 10. Oktober in Ankara wurden auf dem Festival nicht vergessen.

Die Iraner im Widerstand: Die Pressefreiheit und das Recht auf Information sind für alle Völker wichtig!

Eine Videobotschaft, die von den Teilnehmern am Widerstand im Iran in Solidarität mit der Zeitung gesendet wurde, wurde ebenfalls auf dem Festival ausgestrahlt: „Das iranische Regime tut alles, um den Widerstand zu unterdrücken. Von der Erschießung von Menschen auf der Straße, bis hin zu Angriffen auf Grundschulen. Natürlich sind die Medien eingeschränkt. Wir versuchen die Stimme unseres Volkes innerhalb und außerhalb des Landes zu sein. Die internationale Solidarität gegen das Unterdrückungsregime ist von großer Bedeutung. Die Pressefreiheit und das Recht, Nachrichten zu erhalten, sind für alle Völker wichtig. Gut, dass es euch gibt, Evrensel.“

An der Veranstaltung nahmen teil: der Schauspieler Kadir İnanır, der Vorsitzende der Partei der Arbeit (EMEP), Ercüment Akdeniz, die Ko-Vorsitzende der HDP, Pervin Buldan, der CHP-Abgeordnete Sezgin Tanrıkulu, der Bürgermeister der Stadtgemeinde Avcılar, Turan Hançerli, der Vorsitzende der Leder- und Textilgewerkschaft Deriteks, Makum Alagöz, der Vorsitzende der Journalistengewerkschaft TGS, Gökhan Durmuş, der Vorsitzende der Autorengewerkschaft TYS, Adnan Özyalçıner und die sich im Arbeitskampf befindenden Mitarbeiter der Firmen Yasin Çakır, Puler und ETF.

Hafen-, Metall-, Textil- und Transportarbeiter, Beschäftigte im Öffentlichen Dienst, die Mitglieder des Gewerkschaftsdachverbands KESK sind, Führungskräfte von Provinz- und Bezirksorganisationen der EMEP, der CHP, der HDP und der TİP, Führungskräfte von alevitischen Organisationen und alevitischen Gemeinden, Samstagsmütter, Friedensmütter, Mitglieder der Volkssolidarität von Şahintepe, die sich gegen die städtische Umgestaltung in Şahintepe wehren, lokale Vereine, Massenorganisationen und Gewerkschaftsvertreter waren ebenfalls anwesend.

Außerdem gab es Ausstellungen von Gemälden des iranischen Malers Termeh Yaghoubi, eine Auswahl von Evrensels Schlagzeilen aus 27 Jahren und Karikaturen von Sefer Selvi.

Auch zahlreiche Musik- und Tanzgruppen traten auf dem Solidaritätsfestival auf und brachten Farbe in die Veranstaltung, um zu zeigen, dass sie zu Evrensel stehen.

Unterdrückte Pressefreiheit in Zahlen

Dutzende Medien unter dem Einfluss der Regierung, viele Hundert kritische Artikel zensiert, Tausende unliebsame Journalistinnen und Journalisten entlassen: Die massive Unterdrückung der Pressefreiheit in der Türkei dauert unvermindert an – und sie lässt sich in konkrete Zahlen fassen. Aus Anlass des neuen Prozesses gegen ihren Türkei-Repräsentanten Erol Önderoglu veröffentlicht Reporter ohne Grenzen (RSF) Zahlen, die das Ausmaß der Repression deutlich machen.

Önderoglu und seinen beiden Mitangeklagten, der Ärztin und Menschenrechtsaktivistin Sebnem Korur Financi sowie dem Autor und Journalisten Ahmet Nesin, drohen in dem am Mittwoch (3.2.) beginnenden Prozess bis zu vierzehneinhalb Jahre Haft. Weil sie 2016 jeweils für einen Tag symbolisch die Chefredaktion der inzwischen verbotenen kurdisch-türkischen Zeitung Özgür Gündem übernommen hatten, wird ihnen unter anderem „Propaganda für eine terroristische Organisation“ vorgeworfen. In erster Instanz waren sie 2019 freigesprochen worden, doch am 3. November 2020 ordnete ein Berufungsgericht eine Neuauflage des Prozesses an.

Die folgenden Zahlen hat RSF mit Unterstützung ihrer türkischen Partnerorganisation Bianet zusammengestellt.

90 Prozent
der Medien in der Türkei werden von regierungsnahen Geschäftsleuten kontrolliert.

1358
Online-Artikel oder Links zu Artikeln wurden im Jahr 2020 auf Beschluss von Gerichten und auf Antrag von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, seines Sohnes Bilal Erdogan, seines Schwiegersohnes Berat Albayrak oder regierungsnaher Geschäftsleute, Politikerinnen und Politiker gelöscht.

3436
Journalistinnen und Journalisten wurden in den vergangenen viereinhalb Jahren von türkischen Medien entlassen. Allein 2020 waren es 215.

276
Tage lang wurde kritischen Zeitungen 2020 Werbung staatlicher Institutionen verweigert und damit eine überlebenswichtige Einnahmequelle entzogen.

Mehr als 200
Medienschaffende saßen in der Türkei im Laufe der vergangenen viereinhalb Jahre für kürzere oder längere Zeit wegen ihrer Arbeit im Gefängnis, derzeit sind es 13. Damit ist die Türkei eines der Länder, in denen weltweit die meisten Journalistinnen und Journalisten inhaftiert sind.

48
Journalistinnen und Journalisten verbrachten im Jahr 2020 jeweils mindestens einen Tag in Polizeigewahrsam. Sie wurden festgenommen, weil sie über Themen wie die Situation syrischer Geflüchteter, die Maßnahmen der Regierung gegen die Covid-19-Pandemie oder die Kurdenfrage berichtet hatten.

27,5 Jahre
Haft verhängte ein Gericht in Istanbul am 23. Dezember 2020 gegen Can Dündar, den ehemaligen Chefredakteur der Tageszeitung Cumhuriyet. Dies ist eine der längsten Gefängnisstrafen, die in der Türkei jemals gegen eine Journalistin oder einen Journalisten angeordnet wurden. Dündar muss die Haft nur deshalb nicht antreten, weil er in Deutschland im Exil lebt, seit er 2016 in Istanbul einen Mordversuch überlebte. Die türkische Justiz verfolgt Dündar, seit seine Zeitung 2015 über Waffenlieferungen des türkischen Geheimdienstes an islamistische Gruppen in Syrien berichtete. Präsident Erdogan hatte nach diesem Bericht erklärt: „Wer diesen Artikel zu verantworten hat, wird dafür teuer bezahlen. Ich werde ihn nicht davonkommen lassen.“

71
Jahre alt ist der älteste derzeit inhaftierte Journalist der Türkei, Ahmet Altan. Obwohl das türkische Verfassungsgericht die 2018 verhängten Strafen für ihn, seinen Bruder Mehmet Altan und den Journalisten Nazli Ilicak im Juli 2019 aufhob, wird er immer noch im Hochsicherheitsgefängnis Silivri bei Istanbul festgehalten. Den dreien wurde vorgeworfen, sie hätten mit dem Putschversuch von 2016 sympathisiert und bei einem Fernsehauftritt „unterschwellige Botschaften“ an die Putschenden übermittelt.

63 
Journalistinnen und Journalisten wurden gemäß Paragraf 299 des türkischen Strafrechts wegen „Beleidigung des Staatspräsidenten“ verurteilt, seit Recep Tayyip Erdogan dieses Amt im August 2014 übernahm. Oft werden Medienschaffende auch nach dem Anti-Terror-Gesetz verurteilt, in der Regel wegen Unterstützung einer verbotenen Organisation oder Mitgliedschaft darin. Wirtschaftsjournalistinnen und -journalisten werden auch mit Hilfe des Banken- und des Kapitalmarktgesetzes verfolgt.

128.000 Euro 
beträgt die Summe der Entschädigungen an acht Journalisten der Zeitung Cumhuriyet, zu der der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Türkei am 10. November 2020 verurteilt hat. Das Gericht urteilte, dass der türkische Staat sie 2016 fast ein Jahr lang willkürlich inhaftiert hatte. In den vergangenen viereinhalb Jahren hat das Gericht die Türkei zu insgesamt 234.760 Euro Entschädigung an Journalistinnen und Journalisten verurteilt.

139
tätliche Angriffe auf türkische Journalistinnen und Journalisten gab es seit 2016 mindestens. Allein im Jahr 2020 wurden 18 Medienschaffende angegriffen.

160
Medien mussten seit dem Putschversuch von 2016 schließen. Der damals verhängte Ausnahmezustand wurde zum Vorgehen nicht nur gegen jene Medien genutzt, denen Sympathien für den Prediger Fethullah Gülen nachgesagt wurden, dem die türkische Regierung den Putschversuch anlastet. Die Maßnahmen richteten sich ebenso gegen als pro-kurdisch geltende Medien wie den Fernsehsender IMC TV und linksgerichtete Medien wie Hayatin Sesi TV. Beide Sender kämpfen seit mehr als vier Jahren juristisch darum, ihren Betrieb wieder aufnehmen zu dürfen.

154.
Platz von 180 Ländern: So schlecht schneidet die Türkei in der aktuellen Rangliste der Pressefreiheit ab.

Quelle: www.reporter-ohne-grenzen.de/pressemitteilungen/meldung/unterdrueckte-pressefreiheit-in-zahlen

Friedenspreisträgerin in der Türkei zu Haft verurteilt

Die hessische Friedenspreisträgerin Sebnem Korur Fincanci ist in der Türkei zu einer Haftstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt worden. Ihr wird „Terrorpropaganda“ vorgeworfen. Ministerpräsident Bouffier zeigte sich betroffen.
Vor wenigen Wochen noch hatte die Vorsitzende der türkischen Menschenrechtsstiftung Şebnem Korur Fincanci den Hessischen Friedenspreis in Wiesbaden bekommen. Nun wurde die Menschenrechtlerin in der Türkei zu einer Haftstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt, wie am Freitag bekannt wurde. Der Vorwurf: „Terrorpropaganda“. Die Verurteilung erfolgte bereits am Mittwoch (19.12.2018) in Istanbul.

Fincanci hatte im Jahr 2016 die Friedenspetition „We will not be a party to this crime“ unterschrieben. Sie ist eine von über 1.000 Akademikern, die diese Friedenspetition unterzeichnet haben. Laut Medienberichten muss sie die Haft tatsächlich antreten.
Kartmann: „Ich wünsche ihr viel Kraft“
Der Präsident des Hessischen Landtags, Norbert Kartmann (CDU), zeigte sich bestürzt über das Urteil. „Şebnem Korur Fincanci ist eine mutige Frau, ich wünsche ihr viel Kraft bei ihrem unbeirrbaren Einsatz für den Frieden und die Menschenrechte“, so der Landtagspräsident.
Auch der Hessische Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) kritisierte die Entscheidung des Gerichtes. „Ihre Verurteilung macht mich sehr betroffen. Wir brauchen Menschen wie sie, die sich unermüdlich für den Frieden engagieren – und dabei auch ein persönliches Risiko nicht scheuen“, sagte Bouffier.
Fincanci hatte den Friedenspreis für ihren Einsatz für die Aufarbeitung von Folter und Menschenrechtsverletzungen in der Türkei erhalten. Sie ist Mitverfasserin des so genannten „Istanbul Protokolls“, das als internationales Standardwerk der Vereinten Nationen zur Untersuchung und Dokumentation von Folter weltweit anerkannt ist.
Quelle: https://www.hessenschau.de/gesellschaft/friedenspreistraegerin-in-der-tuerkei-zu-haft-verurteilt,verhaftung-fincanci-100.html


(Sebnem Korur Fincanci schreibt jeder Woche Montag Kolumne für Evrensel: https://www.evrensel.net/yazar/71/sebnem-korur-fincanci

The full text of Prof. Dr. Şebnem Korur Fincancı’s statement to the court:
https://www.evrensel.net/daily/368986/the-full-text-of-prof-dr-sebnem-korur-fincancis-statement-to-the-court

DJV: Solidarität mit Evrensel

Der Deutsche Journalisten-Verband erklärt sich mit der türkischen Tageszeitung Evrensel solidarisch, die akut in ihrer Existenz bedroht ist.
Regelmäßig werden einzelne Ausgaben der linken und gewerkschaftsnahen Zeitung konfisziert. Durch teure Gerichtsverfahren wird versucht, die ökonomische Existenz von Evrensel zu zerstören. Immer wieder
wird sie wegen vermeintlich unbotmäßiger Artikel zu hohen Strafzahlungen verurteilt. Redaktionsmitglieder sehen sich willkürlichen Verhaftungen ausgesetzt. DJV-Bundesvorsitzender Frank Überall gehört deshalb zu den Erstunterzeichnern des Solidaritätsaufrufs „Pressefreiheit kennt keine Grenzen“. Ins Leben gerufen wurde der Aufruf von Journalistinnen und Journalisten der taz.
„Die Evrensel gehört zu den ganz wenigen Medien in der Türkei, die der Unterdrückungspolitik des Staates noch standhalten“, betont der DJV-Vorsitzende. „Wie lange die Redaktion noch existieren kann, weiß niemand. Aber klar ist: Sie braucht ganz dringend internationale Unterstützung.“ Für Journalisten in der freien Bundesrepublik sei es Ehrensache, den Evrensel-Kollegen beizustehen.
(19. Dezember 2018)

Türkei: Unterstützung für „Evrensel“

DEZEMBER 2018 VON MH/PM
„Pressefreiheit kennt keine Grenzen“ ist ein Solidaritätsaufruf für die türkische Tageszeitung „Evrensel“ übertitelt, den taz-Redakteur Pascal Beucker und Evrensel-Journalist Yücel Özdemir initiiert haben. „Evrensel“ gehört zu den wenigen oppositionellen Medien in der Türkei, die noch nicht geschlossen wurden oder schließen mussten, ist jedoch massiv in seiner Existenz bedroht. Beucker und Özdemir bitten deshalb auch um finanzielle Unterstützung. Der stellvertretende dju-Bundesvorsitzende Peter Freitag gehört zu den Erstunterzeichner_innen des Solidaritätsaufrufs.
„Die Journalistinnen und Journalisten in der Türkei brauchen unsere Solidarität. Das gilt für jene, die seit dem gescheiterten Putsch mit fadenscheinigen Gründen in Haft sitzen. Das gilt aber auch für all jene, die wie die Kolleginnen und Kollegen von „Evrensel“ ihre wichtige Aufgabe allen Repressalien und Bedrohungen zum Trotz noch erfüllen und sich für demokratische Verhältnisse in ihrem Land einsetzen können. Ihnen gehört unser Respekt und unsere Unterstützung“, sagte Peter Freitag. Die dju in ver.di stehe uneingeschränkt an ihrer Seite.
Evrensel befinde sich in dramatischen finanziellen Schwierigkeiten, heißt es in dem Aufruf, ausgelöst durch die „ökonomische Drangsalierung“ seitens staatlicher Stellen, mit der unbequemer Journalismus mundtot gemacht werden soll. Regelmäßig würden einzelne Ausgaben der linken und gewerkschaftsnahen Zeitung konfisziert, immer wieder werde sie wegen vermeintlich unbotmäßiger Artikel zu hohen Strafzahlungen verurteilt, Redaktionsmitglieder sähen sich willkürlichen Verhaftungen ausgesetzt. „Eine solche Zermürbungstaktik durchzuhalten, ist kein leichtes Unterfangen und kostet viel Kraft. Desto wichtiger ist jetzt unsere Solidarität und Unterstützung“, so die Initiatoren des Aufrufs. Sie bitten darum, den Kolleginnen und Kollegen in der Türkei zur Seite zu stehen und mit dafür zu sorgen, dass „Evrensel“ „dem ungeheuren ökonomischen und politischen Druck weiter standhalten kann.

3 weitere Journalisten in der Türkei verurteilt

Am 28. September 2016 unterschrieb der Präsident Erdogan das Dekret mit der Nummer 668 im Rahmen der seit dem Putschversuch im Juli geltenden Notstandsgesetze und verbot den regierungskritischen Fernsehsender Hayatin Sesi (vormals Hayat TV) sowie 12 weitere linke, Erdogan-kritische und kurdische TV-Stationen, darunter auch einen kurdischen Kinderkanal und 11 Radiosender. Der Vorwurf gegen Hayatin Sesi lautete wie üblich in der Türkei: „Propaganda einer Terrororganisation“. Später folgten Verbote weiterer Medien, politischer und philosophischer Zeitschriften und sogar einer Kulturzeitschrift. Die Staatsanwaltschaft ging einen Schritt weiter und nahm die Begründung zur Schließung als Beweis dafür, um dem Sender auch noch eine Geldstrafe aufzubürden. Büros, Computer und Kameras wurden beschlagnahmt, die Konten gepfändet und hohe Geldstrafen gegeben. Nun, fast zwei Jahre nach Schließung, wurden die beiden früheren Miteigentümer Mustafa Kara und Ismail Gökhan Bayram sowie der Chefredakteur Gökhan Cetin mit jeweils drei Jahren und neun Monaten Haft verurteilt. Die Staatsanwaltschaft hatte 13 Jahre gefordert. Bis zu einem Berufungsurteil bleiben die 3 Journalisten auf freiem Fuß.

In der Türkei sitzen derzeit 183 Journalisten im Gefängnis.

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Hintergrundinfos zur Schließung von Hayatin Sesi

Sowohl die Begründung als auch die Anklage an sich hat nichts mit Rechtsstaatlichkeit zu tun und zeigt, mit welchen Mitteln Erdogan und seine AKP Kritiker mundtot machen wollen. Aus den Fingern gesogene „Beweise“ und deren lächerliche Begründungen zeigen, was Erdogan von Presse- und Meinungsfreiheit hält.

Zunächst wird die Live-Berichterstattung des Senders während und nach dem Selbstmordattentat des Islamischen Staates am 10. Oktober 2015 am Bahnhof von Ankara als Straftat eingestuft. Hayatin Sesi berichtete über den Anschlag auf eine Friedensdemo, bei dem 109 Erdogan-Gegner getötet wurden, verurteilte an Ort und Stelle diesen feigen Anschlag und forderte eine schnelle Aufklärung. Der Sender stellte während der Live-Übertragung auch die Frage, warum keine Sicherheitskräfte mehrere Hundert Meter im Umkreis der Explosion zu sehen waren, als die Bombe hochging. Immerhin sei es sehr unüblich, dass man nicht etliche Polizeikontrollen und -schikane über sich ergehen lassen müsse, bis man am Kundgebungsort ankäme. In der Anklageschrift wird betont, dass der Sender an diesem Tag trotz des verhängten Sendeverbots, den ganzen Tag darüber berichtet habe und deswegen gegen die Anweisung der „Regulierungsbehörde für den privaten Rundfunk“ (RTÜK) verstoßen habe.

Die herangeführten „Beweise“ für die Anschuldigung sind genauso lächerlich: „Terrorpropaganda“ wird damit begründet, dass …

  • … Bilder einer verletzten Frau gezeigt werden, die umhüllt in einem Demo-Transparent weggetragen wird, wobei man nicht mal genau erkennt, welcher Organisation dieses Transparent gehört.
  • … Bilder einer Handykamera gezeigt werden, die die Momente kurz vor, während und nach der Explosion einer Bombe aufgenommen hat.
  • … Menschen, die nach der Explosion in Panik weglaufen oder nach Freunden oder Angehörigen zu suchen, gezeigt werden. Somit erfülle der Sender laut Staatsanwaltschaft den Straftatbestand, eine Terrororganisation zu unterstützen, in dem er die Panik und das Chaos unzensiert auf die Bildschirme bringe.

Eine weitere Anschuldigung gegen den Sender und die Betreiber ist die Berichterstattung über ein anderes Attentat am 13. März 2016 in Ankara, bei dem 35 Menschen starben. Die Straftat dabei bestehe darin, dass Angehörige der Opfer interviewt wurden und diese ihren Schmerz und ihre Wut öffentlich zur Sprache brachten. Ebenfalls wurde dem Sender vorgeworfen, dass die Zahl der Opfer genannt wurde. Ein Angehöriger hatte während eines Interviews seiner Trauer und seinem Verlust luftgemacht, in dem er die Politik der Regierung als die Ursache von Terroranschlägen bezeichnete und den Rücktritt von Verantwortlichen forderte.

Eine weitere Anschuldigung ist der Bericht über den IS-Anschlag am 19. März 2016 am Taksim Platz in Istanbul, bei dem 4 Menschen starben und 36 Menschen verletzt wurden. In der Anklageschrift steht, dass die Video-Aufnahmen ohne jegliche redaktionelle Bearbeitung und Zensur ausgestrahlt wurden, so dass man Sanitäter, die die Verletzten versorgten, erkennen und hören könne. Und „all dies wurde trotz verhängtem Sendeverbot ausgestrahlt“, so der Vorwurf. Diese Berichte gelten in Erdogans Türkei als Beweis für den Straftatbestand „Propaganda für eine Terrororganisation“ betrieben zu haben, also in dem Falle für den Islamischen Staat, da deren Ziel, Angst einzujagen, verbreitet worden sei!